Buchkritiken

 

2022 und 2023

 

 

 

 

Verena Rossbacher: "Mon chéri und unsere demolierten Seelen" (2023)

Jan Weiler: "Der Markisenmann" (2022)

 

 

 

 

 

 

Verena Rossbacher

Mon chéri und unsere demolierten Seelen

 

 (2022)

 

 

 

Man ist schon gefangen, wenn man im Vorwort solche pfiffigen Sätze liest: „Sex, Träume, jemand, den wir auf dem Klo betrachten – falls eine dieser Rubriken für Sie sozusagen den Grundpfeiler guter Literatur bildet, sollten Sie dieses Buch schleunigst wieder weglegen.“ Obwohl später dann doch Sex vorkommt! Die Hauptperson und Ich-Erzählerin, die dreiundvierzigjährige Charly Benz, sagt: „Wenn Karl Lagerfeld behauptete, wer eine Jogginghose trage, habe die Kontrolle über sein Leben verloren, konnte ich nur sagen: Kann schon sein, Karl. Da ich aber nie das Gefühl hatte, die Kontrolle über mein Leben zu haben, gab es da eigentlich nichts zu verlieren.“ Obwohl sie einen guten Job im Marketing der Berliner Food-Company „LuckyLili“ hat, kriegt sie ihr Leben einfach nicht in den Griff. „Mit zwölf Jahren wurde mir schlagartig klar, dass ich nie durch Anmut überzeugen würde“. Sie redet gern über ihre Beziehungsprobleme, die darin bestehen, dass sie keine Beziehung hat. Die Frau ist ziemlich chaotisch und lässt kaum einen Fettnapf aus. „Fazit: Mein Leben sah nicht gut aus. Verzehrte verkohlte Croissants: fünf. Zigaretten: viele. Fertig. Dazu ein Aussehen wie eine demolierte Giraffe mit schlechter Konstitution.“ Charly ist komplexbeladen, aber immer gut gelaunt und zeigt einen unverwüstlichen Optimismus. „Ich finde, kein halbwegs selbstbewusster Mensch leidet unterm generischen Maskulinum“. Und voller Selbstironie: „Jeder Mensch hatte seinen ganz bestimmten Platz auf der Esoterikskala. Ich war ungefähr bei eins oder zwei, den Nullerschnitt versaute ich mir, weil ich meine Haare nur im Zeichen des Löwen schnitt.“ Und immer fähig zu einer witzigen Formulierung: John Travolta tritt auf die Tanzfläche „wie ein Pfau auf Amphetaminen“.

 

Einen einzigen Freund hat sie: den sechzigjährigen Herrn Schabowski, mit dem sie über ihre Ängste sprechen kann. Und der ihre Post für sie sortiert, eine Art professioneller Brieföffner. Wenn Charly bei Herrn Schabowski die geöffneten Briefe abholt und sie besprechen, was zu tun ist, trinken sie Bohnenkaffee, essen Toffifee oder Müsliriegel. Aber dann gerät Charlys Leben furchtbar durcheinander. Drei Männer treten auf, ein Jugendfreund, in den sie schon als Schülerin verknallt war, ein Kulturjournalist einer „renommierten Wochenzeitung“ und ihr Wohnungsnachbar. Mit allen hat sie Sex, und als sie schwanger wird, stellen sich natürlich einige Fragen.

 

Das Buch ist literarisch brillant und äußerst humorvoll, bleibt aber nicht im Komischen stecken, das Leichte und das Schwere, das Heitere und das Ernste halten sich die Waage. In einem Interview sagte Verena Rossbacher, dass Humor kein schlichtes Wegwinken, sondern vielmehr auch eine Form der durchaus ernsthaften Auseinandersetzung sei und man somit sehr vieles auch mit Humor angehen könne. Ihr Buch ist eine Wundertüte an Ideen, Pointen und Skurrilitäten. Es geht um Yoga, Familienaufstellung, Werbung, Gesundheitswahn, Tinder, Sexismus, Presse. Charly hat früher Germanistik, Philosophie und Theologie studiert, so geht es ihrer Erzählung um Peter Handke, Thomas Mann, Kafka, Leonard Cohen und andere. Mit einem Referat über Max Frisch hatte sich Charly sich seinerzeit an der Uni unbeliebt gemacht: „Ich stellte fest, dass seine Sachen mordsmäßig schlecht gealtert waren und er mir schlimm auf die Nerven ging.“ In ihrem Vortrag sagt sie, „man habe den Mann vollkommen überschätzt“. Das ist ganz offensichtlich auch die Meinung der Autorin Verena Rossbacher, die 1979 in Österreich geboren wurde und in Zürich dieselben Fächer studiert hat wie ihre Romanfigur.

 

Was hat der Titel zu bedeuten? Ganz einfach. Das Ende des grandiosen Romans ist bittersüß wie die Piemontkirsche in der Mon chéri-Praline. Wobei die Bedeutung „Mein Liebling“ – also das Thema Liebe – eben auch den ganzen Roman durchzieht. Er vermittelt – in bester Weise altmodisch – so etwas wie Trost und Zukunftshoffnung und lässt den Leser in guter Laune zurück.

 

 

 

 

Jan Weiler

 

 DER MARKISENMANN (2022)



Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt, ist es besser, viel besser als man glaubt!“ singt Herbert Grönemeyer. Und das stimmt! Was soll man denn in Miami, wenn man in Duisburg am Rhein-Herne-Kanal sitzen kann? Die 32-jährige Kim erzählt von dem Sommer, als sie mit 14 Jahren den Markisenmann traf: den erfolglosesten Markisen-Verkäufer der Welt, ihren Erzeuger, Ronald Papen. Sie hat aus Versehen beim Grillen fast ihren Stiefbruder umgebracht und sich damit aus ihrer Pseudo-Familie, aus ihrem oberflächlichen Konsumleben, gewissermaßen rausgesprengt. Danach wird sie sozusagen „strafversetzt“: Anstatt mit Eltern und Stiefbruder in Miami Urlaub zu machen, verbringt sie ein paar Wochen bei ihrem Vater auf einer Industriebrache im Ruhrgebiet, in einer Lagerhalle zwischen Betonwerk und Gleisanlagen. Und ihr Vater ist eben Markisenverkäufer. Er hat in seinem Lager Markisen aus alten DDR-Beständen, es gibt nur zwei Designs: Kopenhagen und Mumbai, neongrün mit gelben und blauen Mustern und braun-gelb-orange. Grotesk, aber geschmacklos! „Wie viele Markisen sind das?“ - „Dreitausendvierhundertsechs.“ - „Und die verkaufst du jetzt an wen genau?“ - „An jeden, der einen Balkon hat.“ Kims Vater ist das krasse Gegenteil von ihrem großkotzigen Stiefvater Heiko Mikulla. Introvertiert, still, bescheiden und sanft. Und ein bisschen seltsam. Und nach anfänglichem Zögern geht Kim mit ihm auf Geschäftstour durchs Ruhrgebiet. Das hat der Vater detailliert kartographiert. „Er kannte sämtliche Autobahnen, Abzweigungen, Bundesstraßen, Umgehungsstraßen, Fernstraßen und Wasserstraßen, das mir vorkam wie ein riesiger Teller Spaghetti. Die Orte waren große und kleine Hackfleischbällchen in einem Gewirr von Nudeln, die die Straßen darstellen.“ (Das Buch spielt im Jahr 2005. Navigationssysteme gab es noch nicht!) Das Problem: Papen verkauft fast nichts, entweder haben die Leute schon Markisen oder nicht genug Geld oder meinen, der Vermieter müsse sie bezahlen. „Die Kunden sind (…) wie Haselnüsse, sagt Papen. Manchmal schwer zu knacken.“ Aber dann hilft Kim mit, sie denkt sich herrliche Verkaufstricks aus, z.B. „Die Markisen sind sehr gut für die Gesundheit, die schützen vor Hautkrebs, wir müssen bei Ihnen mal die Melaninkonzentration in der Luft messen“, und auf einmal läuft das Geschäft glänzend. Und Kims Zwangsurlaubstage sind fröhlich und unbeschwert. Abends sitzt man einer Truppe von fröhlichen Typen in einer Art „Strandbar“ am Kanal. Einer heißt Oktopus, gibt gerne mit fragwürdigen Literaturkenntnissen an, ist amtierender Weltmeister im Bremsscheiben-Weitwurf und Skatgenie und angeblich adlig, Alík Cherik vom Schrottplatz fasziniert Kim wegen seiner Mentalitätsmischung aus russischen, tunesischen und deutschen Anteilen. 

Jedenfalls kommen sich Vater und Tochter langsam näher. Immer wieder gibt es köstliche Szenen. Einmal will Kim dem Vater auf der Fahrt - man ist gerade in Dortmund-Aplerbeck - klarmachen, warum sie Unterleibsschmerzen hat. „Ich sagte, dass ich kein Problem mit dem Darm hätte, worauf er begann, von einem Dackel zu erzählen, der in seiner Jugend so furchtbare Koffer abgestellt habe, dass man die noch im Nachbarhaus riechen konnte. (…) Da platzte mir der Kragen. 'Mein Gott, Papa, ich habe Los Wochos!' - 'Bitte?' - 'Die Indianer sind im Dorf!' - 'Wer ist wo? Ich verstehe kein Wort.' Der Mann hatte einfach überhaupt keine Ahnung, wovon ich sprach. 'Es ist Erdbeersaison', sagte ich. 'Wie jetzt?' - Mein Gott noch mal, Tante Rosa aus Unterleibzig ist zu Besuch!' - Er sagte nichts, weil er nicht wusste, was er darauf antworten sollte, und ich fügte hinzu: 'Ich habe einfach meine Tage.'“

Immer wieder gelingen dem Autor originelle Formulierungen, z.B. „Am Kanal fand in diesen Tagen der Weltmückenkongress statt.“

Jan Weiler, Schriftsteller, Kolumnist und Vorleser, geboren 1967 in Düsseldorf, wohnhaft in München und Umbrien, ist bekannt seit seinem ersten Buch „Maria, ihm schmeckt's nicht“, erschienen 2005.

Sein „Markisenmann“ ist ein großartiger Roman über das Erwachsenwerden, über Freundschaft und Liebe, über Schuld, Verantwortung und Vergebung. Am Schluss klärt sich die Frage: Warum hatte der Vater damals Kims Mutter und damit die kleine Tochter verlassen? Kim ist 1989 geboren, ihre Geburt hat etwas mit der Wende zu tun. Das überraschende Finale verrate ich jetzt allerdings nicht. Das Ganze ist auch eine hinreißende Hymne an das Ruhrgebiet (wo „alles nur ein halbes Stündchen entfernt“ ist), an Kneipen, die „Rosi's Pilstreff“, oder Restaurants, die „Akropolis“ heißen.

Das Buch ist tiefsinnig und heiter zugleich, es ist tragikomisch, manchmal muss man lachen, manchmal ist man tief gerührt. Es ist voller grandioser Typen, Sprachwitz, Tiefsinn und Lebensweisheit. Ein unerhörter Lesegenuss und schon jetzt für mich einer der Romane dieses Jahres.